Zwischen den Molenköpfen

Besuch der Segelyacht Rhe in Klaípéda 14. – 19. Juli 1990

Wachplan
Schiffer I Walter Delius (60) Schiffer II Sabine Apel (43)
Wache I Sabine Apel (43) / Sven Fleischer (20), Wache II Christian Rosendahl (44) / Oliver Knust (13) / Ingrid Behrmann (41), Wache III Wolfgang Knust (44) / Peter Rosendahl (12) / Michael Apel (16)

(aus dem Logbuch)

„Klaípéda backbord querab“, meldet Christian vom Kartentisch. Es ist Sonnabend, der 14. Juli 1990, 21.50 Uhr. Wir sind 12 Stunden früher vor Ort als verabredet.

Genau um 12. 00 Uhr, am nächsten Tag, den 15. Juli 1990, sollen wir feierlich zwischen den Molenköpfen empfangen werden. Logbuchaufzeichnungen klären die Lage: 14. Juli 1990, 02. 00 Uhr, NW 2 – 10. 23 Uhr, NW 4 – 16. 00 Uhr, NW 5 – 18.15Uhr, NW 6 – 7. Die See hat uns auf ihren Rücken genommen, der Wind uns schneller als erwartet vor Klaípéda geschoben. Um 22. 05 Uhr sehen wir die Molenköpfe in Richtung Hafen Aber hindurchfahren können wir nicht. Litauen, so auch Klaípéda, steht in jenen Tagen noch unter sowjetischer Herrschaft.

Es wird von der Zentralregierung in Moskau verwaltet. Um einlaufen zu können, brauchen wir sowjetische Visa. Eduard (Eddi) v. Allwörden, unser Vorsitzender im SC Rhe, wollte sie für uns beschaffen. Aber an Bord hatten wir sie nicht. Die letzte Nachricht, die uns auf Gotland vor dem Auslaufen in Visby am Telefon von seiner Frau Gisela erreicht, lautet, Eddi würde über Vilnius nach Klaípéda kommen und sie uns persönlich geben. Ich hoffe, wir haben sie morgen Mittag bei dem geplanten Empfang zwischen den Molenköpfen.

Bis dahin müssten wir bei auflandigem Wind und rauer See vor der unbekannten Küste kreuzen. Keine einladende Vorstellung. Ich stehe im Luk. Bisher hatten wir keine Probleme. Wir haben die Sigma 41 Rhe am 07. Juli in Kalmar übernommen, vom 08. bis 09. Juli Borgholm auf Oland besucht, vom 10. bis 13. Juli im Kleinbus Gotland erkundet und hier am letzten Tag um 12.00 Uhr Visby verlassen. Das Ziel unserer Reise liegt jetzt greifbar vor unseren Augen. „1 sm bis zur Ansteuerung“ höre ich Christian erneut vom Kartentisch. Empfang hin, Empfang her. Mein Entschluss ist gefasst: „Hier kreuzen wir über Nacht unter Segeln nicht“. „Wir fahren rein“. „Mal sehen, was passiert“.

Kaum haben wir die Molenköpfe passiert, stehen wir im Kegel greller Scheinwerfer. Ein Motorboot schießt auf uns zu. Im Bug ein Mann in Uniform. Er umrundet den Rhe, liest Name und Heimathafen am Spiegel im Heck, spricht mich auf Russisch an. Ich verstehe kein Wort. Auf meine Fragen reagiert er nicht. Seine Handzeichen befehlen, wir sollen ihm folgen. Er lotst uns in den Handelshafen und weist auf einen freien Liegeplatz an der Kaimauer hin. Hier machen wir fest. Zwei Uniformierte nähern sich im Laufschritt, beziehen Posten über uns auf dem Kai. Wenig später kommt ein Grenzschutzoffizier an Bord. Er will unsere Visa sehen. „Die kommen morgenfrüh aus Vilnius“, erkläre ich ihm. Ich zeige ihm eine Einladung der Stadt Klaipéda, die unser Club, der SC Rhe, über den Klaipédas Yachtklubas erhalten hat.

Seine Antwort, stockend in Deutsch: „Einladung gut“ „Visa besser“. Am nächsten Morgen will er wiederkommen und unsere Visa endgültig sehen. Die Soldaten seien zu unserem Schutz auf dem Kai. Wir müssten vor denen keine Angst haben. Am Rande erfahren wir, dass eine deutsche Yacht, die im letzten Jahr Klaípéda angelaufen hatte, sofort wieder ausgewiesen wurde. Bevor er geht, muss ich noch etwas klären. Um uns herum wehen auf allen Schiffen die litauischen Farben Gelb – Grün – Rot. Bei uns in der Steuerbordsaling zeigen wir noch Hammer und Sichel auf rotem Grund. Ich hatte die sowjetische Flagge als Gastlands Flagge setzen lassen, um den Problemen mit unseren sowjetischen Visa nicht noch ein weiteres hinzuzufügen. Können wir die litauische Flagge vorheissen, frage ich den Offizier? Natürlich! In wenigen Minuten erlebe ich, welche Gesinnung sich hinter den Uniformen verbirgt. Als die Farben Litauens, von Peters Knabenhand geführt, zur Saling hochsteigen, leuchten die Gesichter der Soldaten über uns auf.

Irre ich mich? Sprach der Offizier neben mir eben nicht richtig Deutsch? Ich habe das Gefühl, jetzt sind wir wirklich in dem Land angekommen, das am 11. März 1990 als erstes der 15 Sowjetrepubliken seine Souveränität gegenüber der Sowjetunion erklärt hat. Sonntag, 15. Juli 1990, 10 Uhr 30. Unsere Visa sind da! Eddi reicht sie mir von Bord der litauischen Yacht, die zu unserem Empfang längsseits gekommen ist. Viel länger hätte ich den bereits wartenden Grenzschutzoffizier nicht hinhalten können. Er geht und kommt nach einer Stunde mit unseren Reisepässen zurück. Wir können zum Hafen des Klaípèdas Yachtklubas verholen. Die Annäherung über die Breite des bei Klaípéda sich flussartig verjüngenden Kurischen Haffs beschreibt Oliver in seinem Bericht: „Peter steuert das Schiff, zur Feier des Tages über alle Toppen geflaggt, zum Hafen. Schon von weitem sehen wir an Land die deutsche Fahne und den Rhe Stander zu unserer Begrüßung gehisst. Es regnet und wir sind völlig durchgeweicht.

Auf der Kaimauer stehen viele Menschen und winken uns zu. Als wir anlegen, kommen sie gleich zu unserem Schiff gelaufen und begrüßen uns …. Es war ein spannendes Erlebnis für mich, und ich werde es nicht so schnell vergessen.“ Dann lernen wir persönlich unsere Gastgeber und Betreuer kennen: Rimas Dargis, den Präsidenten und Marius Eidukevicius, den Direktor des Klaípédos Yachtklubas – Laima Laurinaviciene und Rimantas Sabanas, unsere hilfreichen Dolmetcher – Vytautas Sliogerís, den Projektingenieur – Raimondas Norkus, den Architeken, Antanas Stanevicius, den Redakteur der Tageszeitung Klaípéda – Snieguole Zalatore, die Journalistin. Sie haben ein strammes Programm für uns vorbereitet. Ein jedes eine besondere Geschichte wert. Hier nur das Wesentliche in Stichworten – Sonntag: Begrüßung durch den Präsidenten und Direktor > Einladung von Antanas Stanevicius zu einem Interview in die Redaktion der Tageszeitung, Besichtigung der Stadt, abends Gastgeber und Betreuer an Bord der Segelyacht Rhe, hier Essen, Trinken, Trinksprüche und Reden in heiterer Runde, ich zähle über 20 Personen unter Deck > Montag: Stadtrundgang in strömendem Regen, Erklärung historischer Gebäude > Dienstag: Ausflug mit einer Motorbarkasse in die ehemals deutschen Orte Nidden und Schwarzort – Sabine und ich stehen in Nidden vor dem Haus von Thomas Mann, Regen aus Eimern, quatschig nasse Seestiefel – zurück in fröhlicher Runde mit kreisender Wodkaflasche unter Deck in den Hafen des Yachtklubas > Mittwoch: Besichtigung des Tiefsee- Aquariums, mittags Einladung in der Stadt zu einem festlichen Essen, abends Folklore, unsere Gastgeber und Betreuer, unser Vorsitzender Eduard und Frau Gisela von Allwörden, die gesamte Crew des Rhe und viele Litauer in einem großen Saal vereint > Donnerstag: Wir nehmen Abschied, beginnen mit den Vorbereitungen zum Auslaufen, Zoll und Grenzschutzbeamte an Bord, kurze Durchsuchung des Rhe, 14Uhr 35. Wir legen ab und laufen aus. Wir passieren erneut die Molenköpfe. Nicht aber, wie ursprünglich geplant, mit Ziel Kaliningrad. Für diese Stadt haben wir keine Visa bekommen.

Unser Ziel ist Nexö auf Bornholm. Hier reisen wir mit öffentlichen Bussen längst altbekannte Orte ab: Auf den kleinen Fischereihafen Gudem mit seinen Heringen, geräuchert in qualmenden heißen Öfen, wollen wir nicht verzichten, Allinge und die Nordspitze von Bornholm mit dem kleinen oft von See gepeilten Leuchtturm sehen wir nun von Land, auch Hammerhavn mit der verfallenden Ruine des Bischofssitzes oberhalb des Hafens > Wir besuchen, wie oft zuvor, Christiansö, die kleine Insel im Osten von Bornholm > schauen weiter in Utklippan mit seinem markanten Leuchtturm rein > Dann schließt sich der Kreis > Sonnabend, den 28. Juli 1990, übergeben wir nach 21 Tagen den Rhe an eine neue Mannschaft dort, wo unsere Reise am 07. Juli 1990 begann: Am Kalmar Sund im schwedischen Hafen von Kalmar.> 648,3 sm über Grund liegen hinter uns.

Ein Blick zurück: Denke ich heute 2019 an unsere Reise 1990 mit der Clubyacht Rhe nach Klaípéda, kann ich mich eines tiefen Gefühls der Dankbarkeit nicht erwehren. In Dankbarkeit bleibe ich den Männern und Frauen verbunden, die sich meiner Mannschaft und mir in ihrer Heimatstadt herzlich zugewandt, die uns freundlich empfangen und unter engen wirtschaftlichen Bedingungen reichlich bewirtet haben. Gleiches habe ich zuvor und danach nie mehr erlebt. Sie müssen uns erwartet und sich echt auf uns gefreut haben. Wir waren die erste Yacht aus Hamburg, die nach1945, dem Ende des Weltkriegs II, nach Klaípéda kam. Dankbar bin ich Eduard von Allwörden. Eddi hat zu seiner Zeit als 1. Vorsitzender im SC Rhe, bestärkt durch seine Frau Gisela, von langer Hand die Verträge zur Freundschaft mit den Yachtklubas in Klaípéda und Kaliningrad vorbereitet. Er hat beharrlich dafür gesorgt, dass unsere Reise stattfinden konnte und hartnäckig die nötigen Visa beschafft. Er hat dem Segelclub Rhe im wahrsten Sinne des Wortes sportlich neu das Fenster in die vertrauten Reviere im Osten Europas geöffnet. Wie alles damals gelaufen ist, beschreibt er selbst im Jubiläumsbuch zum 150 jährigem Bestehen des SC Rhe.

Dankbar bin ich den drei Wachen meiner Mannschaft und ihren Wachführern. Jede Wache hat in ihrer Wache den Rhe sicher seinem Ziel näher gebracht. Ein einziges Mal habe ich entschieden, was nur allein ich zu verantworten hatte: Bleiben wir auf See oder queren wir die Molenköpfe zum Hafen in die ruhigen Gewässer unter Land. Wir queren Selbstbestimmung, Fremdbestimmung und Mitbestimmung, schlechthin Fragen zu den Problemen von Führung und Verantwortung, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Interview, das Antanas Stanevicius bei einem Glas Wein in der Redaktion von Klaípéda mit mir führt. Das Interview wurde am 17. Juli mit Fotos von unserer Ankunft in vollem Wortlaut auf der Titelseite der Zeitung veröffentlicht. „Welche Aufgaben“, war seine erste Frage, „und welche Verantwortung hat der Kapitän eines Segelschiffes“? „Er muss die Fähigkeiten eines jeden Mitgliedes seiner Mannschaft kennen“, war meine Antwort, ,und sie so einsetzen, dass er das Schiff durch die Mannschaft zum Segeln und sicher zu seinem vorgegebenen Ziel bringt“. „Er muss laufend überwachen, ob die Organisation, die er geschaffen hat, funktioniert“ „Dazu braucht er einen vom üblichen Wachablauf freien Kopf“. „Das bedeutet, er ist wach frei, aber in seiner Funktion ständig auf Wache“. Ähnlich, meine ich, müssten die Einrichtungen in Staat und Gesellschaft funktionieren. Ob ich in Litauen arbeiten möchte, ist Antanas letzte Frage. Meine Antwort: „In Litauen arbeiten zu können, muss sehr interessant sein“. „Aber diese Möglichkeit passt nicht in meine eigenen Pläne“. Doch bin ich von Herzen froh, dass sich in meiner Nachbarschaft ein neuer Staat formiert.

Im August 1990 besuchen Sabine und mich einige unserer Freunde aus Klaipéda in unserem Haus in Halstenbek. Raimondas Norkus, der Architekt, ist unter ihnen. Er schenkt uns ein Bild seines Vaters, des in Litauen bekannten Malers Vincas Norkus. Es zeigt ein reetgedecktes Haus auf Nidden. Kein Zweifel, es ist das Haus von Thomas Mann, vor dem Sabine und ich am 17. Juli 1990 pitschnass gestanden haben. Litauen hat im Zuge der Neugestaltung (Perestroika), am 11. März 1990, seine Unabhängigkeit erklärt. 2004 wurde es Mitglied der EU und der NATO.

[Walter Delius]